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2022 und 2023 wäre man gut damit gefahren, im Mai aus- und im September wieder einzusteigen. Aber lässt sich aus zwei Jahren hintereinander, in denen man mit diesem „sell in May“ erfolgreich gewesen wäre, bereits eine Wegweisung ablesen? Klopfen wir die Sache mal ab.
Gleich mal vorweg: Meiner Ansicht nach gehört über jedes Börsenportal der Spruch „Unverhofft kommt oft“. Und wer schon zehn, zwanzig Jahre als Anleger auf dem Tacho hat, weiß, dass man an de Börse zukünftige Trends nicht vorhersagen kann, einfach, weil zu viele Einflussfaktoren auf die Kurse wirken, die allesamt nicht sicher vorhersehbar sind. Und die dann auch noch durch den Filter der subjektiven Wahrnehmung der Marktteilnehmer müssen, bevor sie sich in den Kursen niederschlagen.
Wenn wir hier also über Sinn oder Unsinn dieses uralten Börsenspruchs „sell in May and go away, but remember to come back in September“ nachsinnen, dann nur unter der Prämisse möglicher Tendenzen. Zumal ausgerechnet ich, der ein ums andere Jahr erläutert, warum es Unfug ist, an Silvester den DAX-Stand des nächsten Jahresendes weissagen zu wollen, definitiv der falsche wäre, aus einem solchen Schüttelreim eine Vorhersage abzuleiten. Aber eines fällt halt auf:
Die letztes Jahr im April an dieser Stelle gezeigte Erfolgsquote dieser „Regel“ in Bezug auf den DAX wurde 2023 ausgebaut. Über die Jahre 2000 bis 2022 inklusive hätten ein Ausstieg Anfang Mai und der Wiedereinstieg am 1. September 15x einen Erfolg gebracht, 9x ging das schief. Gar nicht mal übel. Aber wollte man deswegen in Zukunft entsprechend dieses Spruchs handeln, wäre das so, als würde man nur deswegen massiv Long gehen, weil die letzten sechs Monate auch einen Gewinn auf der Long-Seite gebracht hätten. Keine scheinbar stabile Serie muss auf ewig stabil bleiben. An der Börse schon mal gar nicht. Es sei denn, man könnte das mit mehr unterfüttern als mit einer solchen, statistisch einigermaßen funktionierenden Saisonalität. Kann man das?
Die eigentliche Basis von „sell in May“ existiert längst nicht mehr, aber …
Die eigentliche Idee hinter diesem „sell in May“ ist zumindest nicht mehr von Bedeutung. Diese „Strategie“ entstand aus der Beobachtung heraus, dass Anleger dazu neigten, vor Beginn der großen Sommerferienzeit ihre Aktien eher zu verkaufen. Und zwar deswegen, weil sie Sorge hatten, dass in dieser Zeit etwas Negatives passieren und die Kurse massiv drücken könnte, ohne dass sie eingreifen könnten oder das auch nur mitbekommen würden. Diese Verkäufer kehrten aber im September, wenn die Ferienzeit vorbei war, wieder zurück, das sorgte ab dann für tendenziell wieder festere Kurse. Das klingt nicht nur, als würden wir von einem Umfeld wie vor 100 Jahren sprechen, genau darum geht es tatsächlich.
Noch bis in die Achtzigerjahre war es schwierig, relativ aktuelle Kurse zu bekommen. Das war schon im eigenen Büro aufwändig, aber irgendwo in den Ferien noch kniffliger. Und dasselbe galt für das Handeln. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto schwieriger war das damals. Im Vergleich zu heute war selbst das Ende der Achtziger, als ich erstmals an der Börse herumhantierte, Steinzeit.
Heute kann man jederzeit an jedem Ort sofort alles erfahren und alles tun, was die Börse angeht. So gesehen ist die eigentliche Basis von „sell in May“ heute nicht mehr existent. Wenn dieser Spruch also immer noch relativ oft funktioniert, muss irgendwie ein Wechsel in den Gründen dafür verantwortlich sein … oder aber es gab einen anderen, heute noch relevanten Grund über das Urlaubsproblem hinaus, den man damals aber weniger wahrnahm oder sogar übersehen hatte. Gibt es den? Den gibt es.
Das Auf und Ab der Hoffnungen startet im Mai/Juni oft seine Abwärts-Phase
Die Gemütslage der Anleger erinnert an Ebbe und Flut, sie verändert sich stetig und rhythmisch. Dabei spielt der Jahreswechsel eine große Rolle. Für das neue Jahr wird man tendenziell zuversichtlich, schauen Sie sich nur mal die Wachstumsprognosen für die Wirtschaft an, die da ab dem Herbst für das kommende Jahr herumgereicht werden. Und ab dem Frühjahr, wenn man merkt, dass eine neue Jahreszahl die Rahmenbedingungen schon wieder mal nicht entsprechend der eigenen Hoffnungen auf den Kopf gestellt hat, werden die dann scheibchenweise nach unten korrigiert.
Auch Investoren tendieren zu diesem „Auf“ zum Jahresende und dem von der Realität erzwungenen „Ab“ in Sachen Optimismus. Und das führt dazu, dass die Monate September/Oktober oft den Beginn einer Phase vermehrter Käufe und entsprechend steigender Aktienmärkte darstellen, während man ab Mai/Juni (oder diesmal ab April?) mit der unsanften Rückkehr auf den harten Boden der Fakten wieder aussteigt.
Das muss nicht immer so laufen. Und die schließlich nicht gerade wenigen Jahre, in denen es anders kam, belegen das ja auch. Wenn man überlegt, dieses „sell in May“ also für sich zu nutzen, muss man dafür gute Argumente haben. Und wenn wir uns einmal anschauen, was speziell die vergangenen zwei Jahre gemein hatten, in denen diese „Regel“ funktionierte und warum sie in den drei Jahren davor, 2019 bis 2021, nicht funktionierte, kommt man auf zwei Ansatzpunkte. Zwei Faktoren, mit denen sich meiner Meinung nach etwas anfangen ließe.
Faktor 1: Wo kommen die Kurse her?
Ich habe Ihnen hier einmal den S&P 500 ab Mitte 2018 bis Ende 2023 abgebildet, um nicht dauernd den DAX als Beispiel zu verwenden, immerhin muss die Sache, wenn sie taugen soll, bei allen Indizes funktionieren. Wir sehen hier also eine Zeitspanne von fünfeinhalb Jahren in einem Candlestick-Chart auf Wochenbasis. Da niemand jemals festgelegt hat, ob mit „sell in May“ und „come back in September“ der Monatsanfang oder das jeweilige Monatsende gemeint ist, habe ich den Mai und den September einfach in entsprechende rote (Mai) und grüne (September) Kästchen gepackt. Eines springt einem bei diesem Chart förmlich ins Auge:
Davon abgesehen, dass sell in May“ beim S&P 500 im vergangenen Jahr nicht funktionierte, beim DAX aber schon, weil der in dieser Zeit schlechter lief, fällt auf, dass es offenbar eher zu einer schwachen Phase ab Mai kommt, wenn der Markt zuvor immens zugelegt hat, sprich die oben erwähnten Hoffnungen massiv in die Kurse eingearbeitet wurden.
2020 und 2021 waren in dieser Hinsicht extrem, denn da ging es fast nonstop aufwärts, weil man an das Ende der Corona-Phase Erwartungen knüpfte, die die Realität nüchtern betrachtet nie hätte liefern können. Man erwartete ein Füllhorn an Wachstum und bekam Lieferengpässe und Inflation. Dass es 2022 mit diesem „sell in May“ funktionierte, dürfte also zu einem Gutteil daran gelegen haben, dass man zuvor massive Luftschlösser gebaut hatte.
Aber Vorsicht, gerade die Jahre 2020 und 2021 zeigen, dass solche Hoffnungen im Frühjahr nicht platzen müssen. Es kommt einfach darauf an, was man hofft. Im Fall der Jahre 2020 und 2021 war das ja die Hoffnung auf Extrem-Wachstum nach dem Ende der Corona-Zeit. Und solange die eben noch nicht vorbei war, ließ sich den Bullen nicht belegen, dass sie da völlig irrational unterwegs waren. Diese „Post-Corona-Euphorie“ konnte also gar nicht platzen, weil „Post-Corona“ noch nicht erreicht war.
Wir sehen aber auch einen anderen Aspekt: Das vierte Quartal 2018 war keines, das von großen Erwartungen geprägt war, sondern von Zinsangst. Da ging es also nicht rauf, sondern runter. Damit fehlte der Großteil der sonst zur Jahreswende aufkeimenden Hoffnung, die ab Mai 2019 hätte platzen können.
Und im vierten Quartal 2019 hatten wir dann zwar eine typische „im-neuen-Jahr-wird-alles-besser“-Rallye, dann aber kam im März 2020 der Corona-Crash. D. h. als der Mai 2020 kam, waren die Kurse vorher nicht gestiegen, sondern eingebrochen, so dass sich die Hoffnung zeitverzögert zurückmeldete und es wieder nichts wurde mit „sell in May“.
Faktor 2: Gibt es eine Schere zwischen Erwartungen und Realität?
Der andere Aspekt ist die Solidität der Hoffnungen, die sich ab dem Herbst des Vorjahres etablieren. Denn natürlich können diese positiven Erwartungen auch fundiert sein, sprich die Anleger kaufen zu Recht auf eine deutliche Verbesserung der Gemengelage vor. Das kann dann zwar dazu führen, dass auf den Kursen ein Deckel drauf ist, weil kaum noch jemand da ist, der einsteigen will, wenn passiert, worauf man gesetzt hatte, aber zu viele im Vorfeld gekauft haben. Aber wenn die Realität „liefert“, ist die Chance, dass man gut fährt, wenn man im Mai verkauft und im Verlauf des Septembers wieder einsteigt, deutlich geringer, als wenn im Vorfeld Luftschlösser gebaut wurden.
Man muss also immer den Einzelfall abwägen. Die Frage ist damit: Wenn man sich diese Faktoren vor Augen hält … könnte 2024 wieder so ein „sell in May“-Jahr werden?
Könnte 2024 wieder ein „sell in May“-Jahr werden?
Auch, wenn alles kann, aber nichts muss, weil – siehe oben – in scheinbar unsichtbaren Lettern über jeder Börse „Unverhofft kommt oft“ geschrieben steht: Die Chance, dass 2024 ein solches Jahr wird, ist gar nicht mal schlecht. Denn wir haben ja alles:
Wir haben eine gewaltige Hausse gesehen, die zwar erst Ende Oktober einsetzte, aber wer 2023 im September eingestiegen wäre, wäre schnell wieder in der Gewinnzone gelandet. Und diese Hausse wurde erst (vorerst?) Ende März beendet, also nur einen Monat vor dem Mai. Und wenn wir uns im vorstehenden Chart ansehen, wie wenig bislang von dieser vorherigen Rallye korrigiert wurde, wäre für die Monate Mai bis September ja noch allerhand übrig. Darüber hinaus haben die Käufer Luftschlösser gebaut, wie sie im Lehrbuch stehen. Und während DAX & Co. noch nahe ihrer Rekorde notieren, sind deren Fundamente längst weggebröckelt:
- Man setzte auf Zinssenkungen ab März: Das Thema wäre dann mal durch.
- Man setzte auf stur weiter steigende Unternehmensgewinne. Und auf eine umgehende Belebung durch ein anspringendes China in den Branchen, wo die Gewinne bislang unter Druck standen. Auch daraus wurde bislang nichts.
- Viele scheinen weiterhin zu denken, dass der Beginn der Zinssenkungen das Wachstum sofort beleben würde. Wie zuletzt schon oft an dieser Stelle dargelegt, vergisst man dabei den (eigentlich logischen) Aufschiebe-Effekt. Auch das hat in Sachen Enttäuschungspotenzial „Pfeffer“.
Doch trotz aller guten Voraussetzungen an der Börse aktuell dafür, dass 2024 „sell in May“ funktionieren könnte, darf man nicht müde werden, es zu wiederholen: Die Kurse bewegen sich so gut wie nie logisch, weil zwischen Fakten und Kursen der Mensch steht, der diese Fakten höchst individuell auslegt. Aber falls Sie mich nach einer (subjektiven!) persönlichen Tendenz fragen würden, würde ich die zumindest so formulieren:
Ich für meinen Teil wäre mit Long-Trades zumindest zurückhaltender als sonst, bevor nicht die Enttäuschung über die eigentlich ja schon geplatzten Hoffnungen in den Kursen drin ist. Und wem jetzt vor mehreren mageren Monaten grauen sollte: Short zu sein ist keinen Deut komplizierter als Long (Mehr dazu lesen Sie hier: Leerverkauf – von fallenden Kursen profitieren). Und eines ist klar, wer flexibel agiert, findet in jeder Börsenphase Gelegenheiten für gute Trades!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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