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Eine Baisse ist für viele ein wenig vergleichbar mit Linksverkehr: völlig ungewohnt. Man weiß, dass man sich umstellen und sich vorsehen muss, aber man ist so sehr in dem vorherigen Muster gefangen, dass da leicht mal etwas fatal schiefgehen kann. Daher ist es wichtig, mit bisherigen Gewissheiten zu brechen, sich als Investor neu zu erfinden, sprich: Man muss alte Zöpfe abschneiden!
Dieser Vergleich mit dem Linksverkehr kam mir spontan, als ich an meine letzte Schottland-Tour mit dem eigenen Auto denken musste. Ein paar Jahrzehnte her, aber doch unvergessen … vor allem die Sache mit dem Linksverkehr. Da habe ich doch extra die Scheinwerfer so abgeklebt, dass ich niemanden blende … höchst umsichtig. Keineswegs umsichtig fand mich der Lkw-Fahrer, dem ich nach einer Nacht ohne Schlaf dann irgendwo im Nirgendwo auf der falschen Seite entgegenkam. Alles nicht so einfach, wenn auf einmal alles anders ist. An der Börse ist das derzeit nicht viel anders.
Baisse ist nicht einfach „Hausse umgekehrt“. Jetzt müssen beide Augen offen bleiben!
Das Problem für viele an der Börse aktuell ist: Jahrelang konnte man alles falsch machen und trotzdem damit nichts falsch machen. Einfach, weil man selbst an einem Zwischenhoch in einen völlig überhitzten Kurs einsteigen konnte und trotzdem über kurz oder lang ein neues Hoch kam und den Fehler so ausbügelte. Das macht vor allem wenig erfahrene Marktteilnehmer unachtsam und zugleich gefährlich selbstsicher. Und das gerne mal ohne jedes Fachwissen. So etwas fällt einem jetzt schwer auf die Füße.
Hinzu kommt, dass Abwärtstrends bissiger sind. Die Volatilität ist höher, in beide Richtungen. Scharfe Selloffs, oft noch rasantere Gegenreaktionen … das ist ein Umfeld, das Fehler deutlich weniger verzeiht als die Hausse früherer Jahre. Da empfiehlt es sich, hellwach zu sein, es zu bleiben und alles an alten Zöpfen über Bord zu werfen, was einem als dauer-bullischen Trader das Leben leicht gemacht hat. Vier Beispiele dazu.
1. Zu Aktien gibt es keine Alternative? Das war mal!
Aktien sind alternativlos, diesen Spruch gibt es eigentlich schon so lange wie die Behauptung, Immobilien würden immer und stetig an Wert zulegen. Beides trifft zwar über den Großteil der Zeit zu. Aber eben nicht immer. Bei Immobilien werden wir sehen, was kommt, bei Aktien ist aber jetzt schon klar: Mittlerweile finden sich da sehr wohl Alternativen. Denn die Behauptung, man bekäme keine Zinsen mehr, ist eben hier und jetzt nicht mehr richtig. Der folgende Chart zeigt, wie markant die Schere zwischen der Dividendenrendite, die man im Schnitt bei den 30 Aktien des Dow Jones bekommt und der Rendite von US-Staatsanleihen mit zehn Jahren Laufzeit mittlerweile geworden ist:

Und wenn die Renditen wieder sinken, womit innerhalb der kommenden zehn Jahre zu rechnen ist, sobald eine Rezession die Inflation wegdrückt, sind bei solchen Anleihen auch noch Kursgewinne drin. Diese Schere einer niedrigeren Dividendenrendite durch Aktien-Kursgewinne zu schließen, ist in einem Umfeld wie diesem nicht gerade einfach. Daher kommen wir langsam sogar in einen Bereich, in dem eine Zeitlang die Aussage gelten könnte, dass es die Anleihen sind, die alternativlos sind. Natürlich nicht, wenn mal klug „Stock Picking“ betreibt, aber auf den Gesamtmarkt bezogen. Ein Szenario, das die meisten Anleger so noch nie erlebt haben. Da gilt es, alte und eben nicht auf Dauer gültige, angebliche „Gewissheiten“ konsequent über Bord zu werfen. Nächstes Beispiel:
2. Aktien steigen langfristig immer?
Ja, das stimmt … wenn man vorher definiert, wie lange „langfristig“ maximal sein darf und wenn man den Startpunkt einer Statistik so wählt, dass diese Aussage dann auch hinhaut. Ach ja, und man sollte den richtigen Index in der richtigen Berechnung wählen. Sonst ist dieser Spruch nämlich auch mal unerfreulich falsch. Schauen Sie sich dazu einfach mal den DAX an.
Nicht den, den wir immer vorgesetzt bekommen. Denn der ist ein Performanceindex. So werden Euro Stoxx 50, Dow Jones und nahezu alle anderen Indizes nämlich nicht präsentiert. Die werden auch als Performanceindex berechnet, aber eben nur „auch“. Performanceindex, das heißt, man rechnet ausgezahlte Dividenden wie einen Kursgewinn und reinvestiert den dann auch noch sofort. Dadurch entsteht ein rechnerischer Zinseszins-Effekt, der die Performance schönt. Nimmt man aber nur die reinen Kursveränderungen der Aktie und damit einen Kursindex … und so sollte es eigentlich sein … hat es sich was mit diesem Spruch.

Wer das sieht, weiß, wie übel eine Baisse diesen „alten Zopf“ ewig steigender Aktien ins Trudeln bringt … und wie wichtig es deshalb ist, gerade jetzt nicht mit Plattitüden, sondern mit Überlegung und Disziplin zu agieren.
3. Buy the dips“ ist out. Jetzt gilt „sell the rallyes“ und „limit your risk“!
Dazu gehört vor allem, mit und nicht gegen den Trend zu agieren. Wenn man jahrelang auch ohne besonnenes Handeln irgendwie davonkam, wenn man in fallende Kurse hinein Long ging (weil die Zwischentiefs immer höher lagen und ein ums andere Mal neue Hochs entstanden), fällt es natürlich schwer, umzudenken. Aber Sie sehen es ja im Chart des S&P 500:

Jetzt haben wir sukzessiv niedrigere Zwischenhochs, die in jeweils neue Tiefs münden. Also gilt jetzt eben das Gegenteil: „sell the rallyes“. Und, weil Gegenbewegungen in Abwärtstrends meist sehr schnell und oft auch weitreichend ablaufen: „limit your risk“.
Short darf man immer nur mit genau kalkuliertem Kapitaleinsatz und Risiko gehen, ohne Stop Loss sollte man besser nicht unterwegs sein. Auch das, das fehlende Risikomanagement, war etwas, das, solange eine Hausse lief, meist ohne großen Schaden funktionierte. In einer Baisse können Sie das nicht erwarten. Dieser Spruch „buy the dips“ ist einer dieser alten Zöpfe, die, wenn man jetzt auf der Gewinnerseite bleiben will, besser umgehend abschneidet.
4. Fachwissen ist nur Ballast und verdient kein Geld? Tja … jetzt nicht mehr!
Ich weiß es ja nicht sicher, aber ich vermute, so mancher Leser hätte mich im Jahr 2021 bisweilen auf den Mond schießen wollen, hinter dem ich offenbar zu Hause sein musste, wenn ich zum x-ten Mal darauf hinwies, dass einige Aktien absurd überbewertet seien. Womöglich gerade wegen des stets mitgelieferten Hinweises, dass so etwas kaum jemanden juckt, solange die Hausse läuft, dann aber auf einmal alle hinschauen, sobald der Aufwärtstrend hinüber ist. Weil der es da noch nicht war. Nicht bei Nemetschek, Eckert & Ziegler, Carl Zeiss, HelloFresh, Zalando oder, wie im Chart abgebildet, bei Sartorius. Und vielen anderen Aktien natürlich auch.
Sartorius ist ein Unternehmen der Labor- und Medizintechnik-Branche. ein Bereich, der sich in einer rezessiven Umgebung mit zeitgleich zu hoher Inflation besser schlagen dürfte als die meisten anderen Branchen. Trotzdem hat sich der Kurs halbiert. Alles, was in den letzten zwei Jahren an Gewinn aufgelaufen war, ist jetzt dahin. Weil?

Weil eben jetzt alle auf die vorher ignorierte Bewertung starren. Als das Kurs/Gewinn-Verhältnis Ende 2021 völlig verrückte 125 erreichte, wo höchsten 60 bis 70 angemessen gewesen wäre, dachten viele, das sei der Beweis dafür, dass man seine Zeit nicht dafür verschwenden müsse, irgendwelche Denk- und Bewertungsmodelle zu erlernen, die nur noch alte Leute nutzen. Leute, die zum alten Eisen gehören und sowieso nicht mehr durchblicken, wie die Börse heute läuft.
Tjaja, das kenne ich. Ich würde zwar behaupten, noch nicht „alt“ gewesen zu sein, als 2000 die Internet-Blase platzte, nicht einmal, als 2008 die Subprime-Blase platzte. Aber jetzt … na ja, meinetwegen bin ich jetzt knapp am „besten Alter“ durch, jetzt, wo die „Alles-Blase“ geplatzt ist. Aber damit habe ich eben einen Vorteil: Ich stand damals mittendrin in etwas, das die noch wenig erfahrenen Anleger von heute nicht kennen und von denen viele auch jetzt noch sicher sind: Muss keiner wissen. Weil es ohne Wissen halt so lange gut ging. Jetzt nicht mehr. Denn was damals unausweichlich war, ist es heute eben, der Chart zeigt es als ein Beispiel von vielen, immer noch: Bewertungen und fundamentale Fakten zählen immer noch … sobald den Leichtfertigen ihre rosa Brille von der Nase fällt. Was lange dauern kann, zugegeben. Aber irgendwann kommt es halt so.
Guter Rat ist auch heute nicht euer … aber seltener
Man könnte noch so manchen „Zopf“ nennen und ausführlicher beschreiben, aber das hier ist ja eine Kolumne und kein Buch. Eines will ich aber noch loswerden: Wer noch nicht im Pulverdampf früherer Baissen ergraut ist, täte nicht nur gut daran, sich umgehend auf den Hosenboden zu setzen und das nun einmal unabdingbare Grundwissen der Börse zu erlernen. Es wäre auch angebracht, sich genau anzusehen, wessen Rat man folgen möchte.
Wenn eine Hausse erst einmal ein paar Jahre währt, wachsen „Genies“, die … völlig uneigennützig, haha … ihre Weisheit mit Ihnen teilen möchten, wie Pilze aus dem Boden. Aber viele tun nichts anders, als irgendwelche Aktien zu pushen, immer wieder zum Einstieg zu trommeln und dazu zu animieren, mit hohen Hebeln Long zu gehen … immer weiter, immer nur Long. Manche haben wirklich etwas drauf und drehen ihre Empfehlungen, raten zum Ausstieg, weisen auf Short-Chancen hin. Viele aber nicht. Seien Sie vorsichtig mit „Experten“, die in einem Abwärtstrend immer wieder Long-Trades empfehlen, die Fakten leugnen und der Börse die Schuld geben, wenn ihre Empfehlungen immer wieder dramatische Verluste zeitigen.
Jetzt ist eine Zeit gekommen, in der nicht Recht hat, wer am lautesten schreit. Jetzt sollte man seine Ratgeber mit Bedacht wählen!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
* Charts vom 24.06.2022, Chartquelle marketmaker pp4
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