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Oft spricht man von Main Street und Wall Street … also von den Bürgern insgesamt und den Anlegern, als wären das zwei verschiedene Welten. Dabei sind viele Bürger ja zugleich Anleger, daher klingt eine solche Unterscheidung unsinnig. Ist sie aber nicht, denn viele bringen es fertig, als normaler Konsument und als Anleger zu agieren wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Für den Fall, dass jemand mit der Story von Robert Louis Stevenson nicht ganz vertraut ist: Dr. Jekyll und Mr. Hyde waren ein und dieselbe Person. Dr. Jekyll hatte ein Serum entwickelt, das imstande war, die guten und negativen Eigenschaften eines Menschen zu separieren. Nahm er es, verwandelte er sich von einem besonnenen, rationalen Menschen in einen gefährlichen, gewalttätigen Verrückten. Letztlich ein Gleichnis dafür, dass in jedem von uns das Irrationale wohnt und jederzeit zum Vorschein kommen kann, wenn es einen entsprechenden Auslöser gibt.
An der Börse gibt es ihn: Emotionen wie Angst, Gier, Verunsicherung beginnen, wenn es um die Börse geht, auch normalerweise rational denkende und handelnde Menschen zu kontrollieren.
Ohne Ausbildung in unsicherem Terrain
Die meisten von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, haben schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte Erfahrung an der Börse gesammelt. Um zu verstehen, was passiert, wenn die Märkte scheinbar völlig irrational laufen, muss man sich dann unbedingt in die Zeit zurückversetzen, als man selbst noch ein „Rookie“ war. Wie ging es uns damals denn in Phasen, die wir nicht kannten, nicht beherrschten, weil so vieles unklar und undurchschaubar war?
Man kommt sich vor wie ein Rekrut, den man ohne vernünftige Ausbildung auf Spähtrupp in feindliches und zugleich völlig unbekanntes Terrain geschickt hat. Im Nebel. Mit Minen. Das ganze Programm. Man hat nichts, worauf man sich stützen könnte. Kein Wissen, keine Erfahrung. Dann übernehmen die Emotionen. Fight or Flight, Adrenalin und nicht die Ratio leiten unsere Hand. So geht es an der Börse aktuell sehr vielen Anlegern auch.
Vergessen wir nicht, dass die Nullzins-Jahre, die Anleihen und Festgeld als Geldanlage eliminiert hatten, Millionen Menschen in den Markt trieben, die in einem normalen Umfeld nie auf die Idee gekommen wären, in Aktien zu investieren. Vergessen wir nicht, dass der Zustrom nach dem Corona-Crash noch einmal größer wurde. Ich habe keine Ahnung, wie groß der Anteil an Anlegern ist, die noch nie eine Baisse erlebt haben, also erst nach 2008 neu in den Markt gekommen sind. Ist es die Hälfte? Wundern würde mich ein so hoher Anteil jedenfalls nicht.
Das Serum des Dr. Jekyll heißt in unserem Fall Volatilität
Wie lief es bei Ihnen in ihrer ersten Chaos-Phase an der Börse? Bei mir war es der Crash des japanischen Aktienmarkts und die Implosion der damals noch neuartigen, japanischen Optionsscheine Anfang der Neunziger. Ich hatte vermutlich nonstop und über Monate hinweg kaum etwas anderes im Kopf als die Verluste, die da entstanden … und ich habe alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. In fallende Kurse zugekauft, um die Nerven zu beruhigen. Gutes Geld Schlechtem hinterhergeworfen. Negative Nachrichten ignoriert, die wenigen positiven überbewertet und, und, und.
Währenddessen wirkte und funktionierte ich außerhalb dieser Problematik völlig normal. Es gab eine messerscharfe Trennung zwischen der Realität und der Börse. Was soweit führte, dass ich mir Anfang der Neunziger große Sorgen über die damalige Rezession machte (Dr. Jekyll), an der Börse aber trotzdem stur immer wieder auf die zerbröselte Hausse setzte (Mr. Hyde). Zwar auch, weil es damals kaum Möglichkeiten gab, außerhalb des damals wie im Wilden Westen laufenden Optionsmarkts auf Baisse zu setzen. Aber vor allem, weil ich im Kopf nicht umschalten konnte, meine dicken Verluste nicht realisieren und damit meine Fehler eingestehen wollte. Wer in seinen Anfangsjahren an der Börse nicht so daneben unterwegs war wie ich: Glückwunsch. Aber mir ging es so. Und ich habe über all die Jahre nur wenige kennengelernt, bei denen es anders lief.
Egal, wann man mit der Börse anfängt: Die nächste, kritische Phase kommt bestimmt. und dann reagiert man emotional, weil es, so gut und wichtig Lehrbücher und Tutorials auch sind, nur eine wirklich zuverlässige Schule gibt, um zu lernen, wie man in schwerer See richtig handelt, ohne abzusaufen: Man muss es einmal mitgemacht und überstanden haben, ohne pleite zu gehen.

Mr. Hyde kennt kein Maß
Wenn wir uns überlegen, wie viele Anleger noch nie eine Krise erlebt haben, wie leicht es in den vergangenen Jahren schien, ohne Wissen und Erfahrung Gewinne zu machen und dann auch noch, dass die Situation weit komplexer und brenzliger ist als eine „normale“ Rezession, kann es nicht wundern, wenn sich viele, getrieben von Hoffnung und Gier, in den Aktienmarkt stürzen.
Wer sich auskennt, weiß sehr wohl, dass ein Monat mit einer leicht niedrigeren Jahresrate bei der US-Inflation ebenso wenig ein Signal für das Ende der Krise ist wie die hohe Zahl an neu geschaffenen US-Jobs im Juli. Aber viele, sehr viele kennen sich eben nicht aus. Und sind bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. Dass selbst Notenbanker unterstreichen, dass man noch lange nicht das Ende der Probleme erreicht habe, wird ignoriert. Aber wenn irgendwelche Marktstrategen in Diensten von Finanzunternehmen, die am Geld der Anleger verdienen, die Wende propagieren, wird das gehört und geglaubt. Da muss ich doch nur 30 Jahre zurückdenken und verstehe: Ja, ich hatte auch nur gehört und gesehen, was ich hören und sehen wollte. Also?
Also kommt es genau deswegen, weil Dr. Jekyll auf der Straße, der Main Street, zwar sieht, dass der Baum brennt, aber in dem Moment, in dem er die symbolische Schwelle zur Wall Street überschreitet, zu Mr. Hyde wird und die Realität ausblendet, immer wieder zu Rallyes, bei denen der erfahrene Investor die Ohren anlegt und nach dem Blutdruck-Messgerät greift. Weil er/sie, trendkonform und entsprechend der Rahmenbedingungen, vornehmlich Short ist und diese Positionen gerade in Stücke gehackt werden.
Wer weiß, dass Mr. Hyde existiert, handelt besonders vorsichtig
Das geht mir übrigens momentan auch so. Allerdings habe ich eben den Vorteil, schon mehrfach in solchen Phasen unterwegs gewesen zu sein, daher pflege ich Short-Trades in diesem Umfeld gestaffelt aufzubauen. Und weil ich weiß, dass die riesige Horde aus Mr. Hydes, die gerade glaubt, der Himmel hinge wieder voller Geigen, kein Maß kennt, weiß ich auch, dass ich das höchst behutsam angehen muss. So etwas führt bei normalen Gegenbewegungen dann zwar dazu, dass man nur sehr kleine Positionen hat und entsprechend nur kleine Gewinne einfährt. Aber so gehen mir, wenn passiert, was gerade passiert, weder Kapital noch Nerven aus.

Ich weiß, was Sie jetzt denken und Sie haben Recht (ja, ein geklautes Zitat): Natürlich nervt eine solche Phase trotzdem. Nicht zuletzt, weil dann immer ein „hätte ich doch“ aufkommt. Hätte ich nicht doch an diesem oder jenem Punkt drehen sollen und damit jetzt auf der Long-Seite Geld verdienen müssen? Aber realistisch betrachtet wäre das zwischen Januar und Juni ein ums andere Mal falsch gewesen. Dass es jetzt funktioniert hätte, hätte … vielleicht … die Verluste ausgleichen können, die man eingefahren hätte, wenn man zuvor zwei, dreimal mit einem Switch auf Long auf den Hut bekommen hätte. Aber wann Mr. Hyde aus dem Schrank hüpft, weiß man halt nicht vorher.
Eben weil diejenigen, die sich gerade in emotionale Wüteriche verwandelt haben, völlig unberechenbar agieren. Das ist eben etwas, das man hinnehmen muss. Weil es, wie die begleitenden Charts dieser Kolumnen auch zeigen, eher Normalität als eine Ausnahme ist. Und eines zeigen die Dimensionen der Rallyes früherer Baisse-Phasen auch:
Chart- und Markttechnik können die „Hydes“ aufhalten. Müssen sie aber nicht
Wir wären jetzt zwar bei allen wichtigen Indizes an massiven charttechnischen Hürden angekommen. Aber zum einen haben die Käufe der Hoffenden und Gierigen zuvor schon andere Hürden niedergewalzt, die von den Short-Sellern allemal hätten verteidigt werden können … wenn sie nicht entweder dachten, dass sie da noch einen zu schweren Stand haben oder sogar auf die Long-Seite übergelaufen waren.

Zum anderen kann man nicht abschätzen, ob große Adressen, die grundsätzlich jederzeit bereit sind, diese Rallye so enden zu lassen wie all die vielen, die Sie in den beiden Beispielcharts der Jahre 2000-2003 und 2008 gesehen haben, wirklich an Widerständen wie der Doppelhürde aus 200-Tage-Linie und Abwärtstrend beim S&P 500 zum Gegenangriff übergehen. Sie könnten die Käufer auch in eine Bullenfalle rennen lassen, indem sie diese Zone freigeben und erst danach zuschlagen. Was die Wirkung eines Abverkaufs, mit dem die vielen nicht mehr rechnen, die sicher waren, dass die Wende jetzt längst vollzogen wurde, noch erhöhen würde.
Erwarten Sie das Unerwartete … dieser Spruch greift halt immer wieder
„Erwarten sie das Unerwartete“ … vor sich hin gesagt ist das leicht, aber wenn man es dann auch „live“ erlebt, ist es eben doch eine Herausforderung. Doch wenn man versteht, dass in vielen Anlegern, die ansonsten besonnene Leute sind, ein Mr. Hyde schlummert, der in Situationen wie diesen zum Vorschein kommt, wundert man sich nicht. Dann gilt es, den eigenen Mr. Hyde im Zaum zu halten, immer mit einem Fuß auf der Main Street zu bleiben und festzustellen:

Ihr könnt toben, wie ihr wollt, ihr Hydes, aber solange man Charts wie den vorstehenden sieht, der die immense Schere zwischen der Sicht der Dinge der normalen Verbraucher und der Rallye am Aktienmarkt zeigt, weiß man: Das Eis auf der Long-Seite ist viel dünner, als fast alle glauben, zumal:
Als diese Schere durch die Corona-Hausse 2020 erstmals so drastisch auseinander klaffte, pumpten die Notenbanken wie die Wilden Geld in die Wirtschaft, das auch seinen Weg an den Aktienmarkt fand. Aktuell aber ziehen die ersten Notenbanken Geld aus dem Markt heraus, agieren also komplett gegensätzlich. Das läuft bei der US-Notenbank seit Wochen, die Bank of England wird in Kürze damit beginnen. Nur die EZB und die chinesische Notenbank pumpen weiter … aber das alleine ändert nichts daran, dass die Käufer gerade versuchen, einen Felsen einen Berg hinauf zu rollen und erst kurz vor dem Gipfel merken, dass Mr. Hyde und Sisyphos offenbar einiges gemeinsam haben. Bleiben wir besonnen, schließlich sind Phasen am Markt, die besonders seltsam wirken, zugleich auch besonders spannend!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
* Charts vom 12.08.2022, Chartquelle marketmaker pp4
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