Erst reagiert der Aktienmarkt ewig nicht auf wachsende Risiken und wirkt dadurch unverwundbar, dann plötzlich brechen die Kurse doch noch ein. Das passiert immer wieder und wirkt völlig unlogisch. Und diese scheinbare Unverwundbarkeit angesichts steigender Gefahren wiegt so manchen Anleger in trügerischer Sicherheit, die dazu führt, dass viele nicht aussteigen, wenn es dann eben doch ernst wird. Was steckt hinter diesem Phänomen? Die Ursache findet sich bei den sogenannten „großen Adressen“.
Die Lage ist eigentlich kritisch, aber ob DAX oder Dow Jones, die großen Aktienindizes sind auf Rekordkurs. Dabei müssten an der Börse aktuell die Marktteilnehmer doch eigentlich wissen, dass sich die Rahmenbedingungen nicht so entwickelt haben, wie sie das erwartet hatten, als im Frühjahr/Sommer 2020 das große Kaufen begann. Und doch steigt scheinbar niemand aus, wird immer weiter gekauft. Der Aktienmarkt wirkt, als könne ihn nichts aufhalten. Doch die Börsenhistorie lehrt uns: der Schein trügt. Ob 1929, 1987, 2000, 2008 oder zuletzt im Frühjahr 2020 (siehe der folgende Chart), irgendwann brechen die Kurse dann eben doch ein, wenn die Last der negativen Einflüsse zu groß wird. Nur:

Warum passiert so etwas meist mit großer Zeitverzögerung? Warum wirkt es, als stünden die Akteure auf der Leitung, während man die Risiken außerhalb der Börsensäle mit Händen greifen kann? Angeblich handelt man an der Börse doch die Zukunft, so aber wirkt es, als sei man dort mit den Reaktionen monatelang hintendran, zumindest, wenn es um Abwärtsbewegungen geht. Das hat Gründe, die man aber nicht auf den ersten Blick erkennt. Entscheidend ist dabei die untrennbare Symbiose zwischen den vielen „passiven“ Sparern und denen, die deren Geld verwalten.
Warum die „alten Hasen“ tun müssen, was ihnen die „Frischlinge“ vorgeben
Wenn ein Sparer nicht selbst investiert, sondern investieren lässt, indem er sich einen ETF kauft, der 1:1 den Markt widerspiegelt, in Fonds einzahlt oder Geld in Spar- oder Rentenpläne mit Aktienanteil steckt, geht er davon aus, dass dort erfahrene Menschen sitzen, die das Beste für sein Geld herausholen. Damit hat der Sparer im Prinzip auch Recht. Doch die Sache hat einen Haken.
Die Entscheider bei diesen sogenannten „großen Adressen“, den institutionellen Investoren, mögen viel Erfahrung haben, aber am Ende müssen sie tun, was diejenigen, die diese Erfahrung nicht haben und ihnen deshalb ihr Geld überantworten, vorgeben. Denn was passiert mit einem Aktienfonds, der aufgrund zunehmender Risiken eine höhere Barreserve hält, lassen wir es mal 20 Prozent sein?
Er verliert seine Kunden an die, die das nicht tun, die nur eine winzige Barreserve halten und deshalb eine bessere Performance erreichen. Cash erzielt nun einmal keine Performance. Ja, aber, könnten Sie nun einwenden: Wenn der vorsichtige Fonds Recht behält, weil die Kurse sinken, werden die Kunden erkennen, dass sie da viel besser gefahren sind, weil dessen Performance durch eine flexible, umfassende Anpassung der Barreserven an die Lage mittelfristig mehr Gewinn macht. Theoretisch schon. Nur hat diese Überlegung eben einen Haken:
Die Sorge, Kunden zu verlieren, führt dazu, dass kaum ein Fonds an der Börse aktuell den Mut hat, höhere Cash-Reserven zu halten, weil man dort eben auch weiß: Wenn alle anderen das zufließende Geld sofort und fast restlos anlegen, steigen die Kurse nun einmal. Und wenn die Kurse steigen, wird immer mehr Geld an den Markt fließen, weil diejenigen, die es den Institutionellen vor die Tür karren, eben neu an der Börse und/oder ohne Fachkenntnis sind. Sie orientieren sich daher nicht an Hintergrunddaten oder Konjunkturdaten, sie vertiefen sich nicht in Unternehmensbilanzen oder Hintergrundanalysen. Sie sehen nur eines: Am Anleihemarkt wird das Geld eher weniger, siehe der folgende Chart, auf dem Konto ebenso, also mache ich da mal mit bei dieser „Aktiensache“. Und wenn die Kurse steigen, warum damit aufhören?

Wenn ein Fonds also zu vorsichtig ist, strömen die Kunden und ihr Geld an ihm vorbei, weil diejenigen, die neu hinzukommen, diese Vorsicht nicht zu schätzen wissen. Sie sehen nur eine dadurch tendenziell niedrige Performance und gehen woandershin.
Ein scheinbares „Perpetuum Mobile“
Die Kurse steigen also, weil viele genauso denken und handeln. Ein scheinbares Perpetuum mobile, bei dem die Rahmenbedingungen keine Rolle spielen. Die Hausse nährt die Hausse, eben weil die institutionellen diese Verhaltensweise erkennen und genau deswegen neues Geld auch immer umgehend in den Markt geben, um den „Schornstein der Hausse“ weiter rauchen zu lassen.
Die erfahrenen Entscheider auf Seiten der großen Adressen mögen das Unheil an der Börse aktuell kommen sehen, sie haben dennoch keine Wahl: Das Geld muss arbeiten … und weil das funktioniert, kommt noch mehr Geld, das die Kurse treibt, was wiederum dazu führt, dass immer mehr Geld an den Markt fließt.
Erneut könnten Sie einwenden: Aber in einer Situation wie dieser halten doch viele ihr Geld lieber beisammen! Stimmt. Werfen wir dazu einem Blick auf die Sparquote in den USA, d.h. auf den prozentualen Anteil des Einkommens, der gespart wird (siehe der folgende Chart). Auch, wenn diese Sparquote nach dem ersten Schock im Frühjahr 2020 deutlich zurückgekommen ist, so liegt sie per Ende November, das sind die aktuellsten Daten, immer noch bei 12,9 Prozent und damit höher als in den letzten knapp 40 Jahren, ausgenommen eben die Monate unmittelbar davor.

Aber was heißt „Sparen“? In den USA mehr noch als bei uns heißt das eben, dass man sein Geld nicht in den Konsum steckt, sondern „anlegt“. Und überlegen wir mal: Die Lage ist eigentlich ernst, aber die Kurse steigen an der Börse aktuell. Wir gehen hier von der großen Zahl passiver Anleger aus, d.h. denen, die eben kein Fachwissen und/oder Erfahrung haben, deswegen ihr Geld anlegen „lassen“ und somit als einzige Orientierung haben, dass ihr Geld mehr wird … oder nicht. Warum sollte diese (riesige) Klientel nicht weiter ihr Erspartes dorthin stecken, wo es sich vermehrt? Zumal diese Sparer ja sehen, dass der Aktienmarkt trotz Krise steigt und daraus schließen müssen, dass es risikolos ist, hier Geld zu investieren? Zumal man sich überlegen könnte, dass die Kurse, wenn die Krise vorbei ist, ja erst Recht steigen müssen?
Sie sehen, hier entsteht ein sich selbst nährender Kreislauf unter Ausschluss der Realität:
Die passiven Sparer kaufen, das treibt die Kurse, weil die institutionellen Investoren dieses Geld umgehend anlegen, das bestärkt die passiven Sparer darin, richtig zu handeln und noch mehr Geld zu überweisen. Verrückt, aber zugleich nachvollziehbar. Aber wieso kommt es dann eben doch immer wieder zu massiven Abwärtsbewegungen? Da kommt die Achillesferse der unverwundbaren Hausse ins Spiel: Die Emotionen einerseits und die Kehrseite zu geringer Cash-Reserven andererseits.
Der Lawineneffekt I: Wenn wackere Sparer wanken
Es gibt einen „Punkt X“, dessen Zeitpunkt des Eintretens niemand vorhersehen kann, weil sich die Sache auf der Ebene der unberechenbaren Emotionen abspielt. Folgende Elemente spielen mit hinein, wenn es dazu kommt, dass dieser Punkt erreicht wird und die ganze Sache schiefgeht.
Zunächst einmal dürften mir wohl nur wenige Akteure widersprechen, wenn ich behaupte, dass es drei Ebenen des Schmerzes für einen Anleger gibt. Ebene 1 ist: Ich liege schief und erleide Verluste. Nicht schön, aber weniger hässlich als Ebene 2: Ich verpasse eine Gelegenheit, die Kurse steigen ohne mich. Das ist richtig bitter, wird aber übertroffen von Ebene 3: Ich verliere einen zwischenzeitig erreichten Gewinne wieder. Fatal. Das tut weh. Warum? Weil wir, da wir nun einmal keine Roboter sind, das Gefühl bekommen, dass ein Gewinn mir gehört, obwohl er noch gar nicht realisiert ist. Beispiel:
Ich habe eine Aktie zu 100 Euro gekauft und die ist jetzt auf 120 Euro gestiegen. Wieviel Geld habe ich? Richtig wäre: Keinen müden Cent, solange, bis ich verkauft habe und das Geld wieder auf dem Konto ist, denn aus 120 Euro können, wenn irgendwas Unerwartetes passiert, über Nacht 50 oder gar 0 Euro werden. Gefühlt aber habe ich eben 120 Euro. Und die will ich nicht mehr hergeben … aber eigentlich auch nicht verkaufen. Denn es könnte ja noch mehr werden, nicht wahr?
Das führt zu zwei widerstreitenden Emotionen: Zu Angst, ich könnte meinen Gewinn wieder verlieren. Und zu Gier, die mir sagt, da ist bestimmt noch viel mehr Gewinn drin.
Die Angst beginnt erst dann die Oberhand zu gewinnen, wenn der Gewinn so groß ist, dass mir ein kleiner Mann im Ohr sagt, dass das so viel mehr ist, als eigentlich zu erwarten war, dass man das Geld lieber mitnehmen sollte. Wenn dieser kleine Mann auch noch mit den unterbewusst ja vorhandenen und nur verdrängten Informationen ankommt, dass die Lage ja eh kritisch ist und es vielleicht doch mal kippt, ja dann wird der eine oder andere auf einmal doch zum Verkäufer und verwandelt seine Fondsanteile oder ETFs in Bares.
Naja, der eine oder andere, das kippt doch keinen Trend! Nein, das nicht. Was den Trend kippt, ist der Umstand, dass aus einigen wenigen leicht viele und aus vielen alle werden können, zumindest, wenn die Rahmenbedingungen negativ sind. Die, die Anleger ja entweder nicht kennen oder ignorieren? Ja, genau die, denn:
Es gibt einige, die wirklich keine Ahnung davon haben, dass sich da eine Schere zwischen Kursen und Rahmenbedingungen an der Börse aktuell aufgetan hat. Aber es gibt sehr viele, die das wissen oder zumindest ahnen, die das aber, vom eigenen Gewinn in Sicherheit gewogen, verdrängen. Verdrängen aber bedeutet: Die Information ist da, sie ist nur in die Besenkammer verbannt worden. Und solche Fakten pflegen schlagartig dann wieder präsent zu sein, auf einmal die Wahrnehmung komplett zu beherrschen, wenn die Kurse fallen und damit die Basis der Verdrängung wegfällt. Von himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt … dieser alte Spruch gilt auch und gerade für dieses Phänomen.
Warum es scheinbar ohne Grund dann doch kippt
Je höher und länger die Kurse steigen, je weniger die Rahmenbedingungen dazu passen, desto näher rückt der Moment, an dem eine Kettenreaktion entsteht, eine Lawine losgetreten wird.
Und das kann dann eben auch ohne jeglichen, eindeutig zuordenbaren Auslöser passieren. Warum kippten die Kurse an einem bestimmten Tag 1987, 2000, 2008, 2020 und nicht ein paar Tage oder Wochen zuvor oder danach? Da sucht man dann in den Nachrichten nach „der“ Nachricht und sucht vergebens, denn:
Meist ist es nur die Angst, gewaltige Gewinne wieder zu verlieren, die erste, größere Gewinnmitnahmen auslöst. Wenn da ein paar Akteure zu viel ankommen und ihr Geld aus dem Markt nehmen, während ausgerechnet dann zu wenige Käufer unterwegs sind, geht es eben mehr als sonst abwärts. Zu viel für diejenigen, die zwar auch Angst um ihre Gewinne hatten, bei denen die Gier aber noch zu groß war, um auszusteigen. Und dann kommt auch noch der oben erwähnte kleine Mann im Ohr und flüstert denen, die diese Erkenntnis nur verdrängt hatten, zu: Du weißt doch, die Lage ist gefährlich …
Too big to run: die „Großen“ können nicht einfach aussteigen
Dann ist die Lawine losgetreten und nicht mehr aufzuhalten. Ohne „externen“ Auslöser. Und die Rolle der großen Adressen ist in diesem Moment erneut eine fatale. Denn ebenso, wie die gefährlich niedrigen Barreserven aus Angst vor der Konkurrenz die Hausse unnatürlich lange am Leben erhalten kann, sorgt dieser Faktor auch dafür, dass eine kalte Dusche umso eisiger wird.
Der folgende Chart zeigt, wie niedrig z.B. die Barreserven bei den US-Fonds derzeit sind: sie liegen im Schnitt bei nur vier Prozent. Diese Grafik geht 40 Jahre zurück und macht deutlich, dass wir uns da am unteren Ende der langfristigen Spanne bewegen. Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass die institutionellen Investoren an der Börse aktuell aufgrund ihrer nahezu hundertprozentigen Investitionsquote nur geringe Möglichkeiten haben, sich dem Auf und Ab des Gesamtmarkts zu entziehen. Unproblematisch, wenn es aufwärts geht, ein übles Problem, wenn es abwärts geht. Denn mal eben, wenn die See rauer wird, auf 20 Prozent Cash hochzufahren, das geht eben nicht so einfach, weil wir hier von gigantischen Portfolios sprechen. Wollte auch nur ein größerer Fonds ein Zehntel seines Portfolios an einem Tag loswerden, wäre das so viel mehr als die übliche Nachfrage seitens der Käufer, dass damit der Kurseinbruch ausgelöst würde, dem man eigentlich entkommen wollte. Und wir reden von Hunderten riesiger Fonds, dazu kommen die Pensionskassen und Versicherungen mit ihren Aktienanteilen. Das heißt:
Diese großen Adressen sind „too big to run“, sie sind zu groß und zu schwerfällig, um einer Lawine entkommen zu können.
Nur schwieriger ist die Lage dann für die ETFs, denn um die ihnen zugrunde liegenden Indizes oder Themenbereiche 1:1 abbilden zu können, muss das zufließende Kapital sofort und nahezu komplett investiert werden.
Was ist die Folge, wenn die Anleger sehen, dass die Blase der Zuversicht platzt, die ersten verkaufen, die Kurse kippen und deswegen zügig ihr Geld abziehen? Dann tritt die Crux der großen Adressen erst so richtig zutage:
Der Lawineneffekt II: Der unsichtbare Kampf der Institutionellen
Denn da sie kaum Barreserven haben, müssen diese institutionellen Investoren dann Positionen verkaufen, um imstande zu sein, den Sparern ihr Geld zurückzugeben, die wegen fallenden Kursen aussteigen wollen. Das erhöht also den Abgabedruck noch weiter. Noch mehr Akteure werden nervös und wollen raus, die Institutionellen müssen noch mehr verkaufen … die Lawine wird also immer größer und schneller, wie wir es nicht nur beim Beispiel des „Corona-Crashs“ erlebt haben. Das ist schlicht ein normales Phänomen, das aus dieser Crux der geringen Cash-Reserven geboren wird.
Natürlich wollen die großen Adressen vermeiden, dass es dazu kommt. Aber wie? Der einzige Weg zu verhindern, dass den Sparern die kritischen Rahmenbedingungen wieder ins Bewusstsein kommen ist, den Grund dafür anzugehen: die kippenden Kurse. Wie?
Indem man kauft, statt zu verkaufen, die Kurse stabil hält, damit die Marktstimmung nur ja nicht kippt. Denn wenn erst einmal ein Exodus der Sparer einsetzt, verdienen diese institutionellen Investoren ja immer weniger, sie leben ja von ihren Kunden. Das Motto heißt also: Gegenangriff, Flucht nach vorne.
Diejenigen, die anderer Leute Geld verwalten, kämpfen also bisweilen gegen aufkommende Unruhe der eigenen Kundschaft, indem sie noch mehr von deren Kapital einsetzen. Aber das kann nicht ewig durchgehalten werden. Bei einer durchschnittlichen Barreserve von im Schnitt vier Prozent in den USA kann das Wochen gutgehen, bedenkt man, wie gigantisch solche Portfolios sind. Aber nicht Monate.
Und diese Phase erleben wir an der Börse aktuell? Hundertprozentig sicher kann man da nie sein, denn natürlich wird so etwas nicht öffentlich verkündet. Zumal nicht alle „Großen“ eine solche Strategie verfolgen. Aber die Rahmenbedingungen würden dazu passen, dieses verblüffende Ausbleiben größerer Korrekturen, das umgehende Aufkaufen von Rücksetzern.
Was man beobachten sollte ist, ob Ausbruchsversuche nach oben jetzt abverkauft werden. Denn um mit wenig so viel wie möglich zu erreichen, gehört zu dieser Vorgehensweise auch, dass man Bestände, die zur Stützung des Marktes eingesammelt wurden, schnell wieder zu Barem macht, sobald sich die Kurse und mit ihnen die Marktstimmung stabilisiert haben, damit die Cash-Reserve länger hält. Aber wie gesagt:
Solange die Rahmenbedingungen sich nicht bessern, wird so das dicke Ende der scheinbar unverwundbaren Aufwärtstrends nur herausgezögert. Entweder, die Gesamtsituation wird zügig besser, oder wir werden in einigen Wochen erneut die verblüfften Fragen hören, warum es denn ausgerechnet jetzt doch noch abwärts ging …
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
*Charts vom 15.12.2020, Chartquelle marketmarker pp4
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