Seit Beginn der Aufzeichnungen über die US-Rohöl-Lagerbestände vor knapp 40 Jahren hat es noch nie eine Woche gegeben, in der die Lagebestände in einer derartig gewaltigen Größenordnung gestiegen wären. 21,56 Millionen Barrel bevorraten die US-Unternehmen mehr als in der Woche zuvor. Und was macht der Ölpreis? Er steigt! Was ist da los?
Der Anstieg, der am Mittwoch für die vergangene Kalenderwoche berichtet wurde, kam unerwartet. Die Experten hatten im Vorfeld einen Rückgang der Bestände um knapp eine Million Barrel vorausgesagt. So wurde jetzt der Rückgang der US-Lagerbestände der vergangenen Wochen komplett egalisiert, der den Bullen als Argument für den fortgesetzten Anstieg der Ölpreise diente.

Trotzdem hatte der Preis der Ölsorte Brent Crude Oil zuletzt etwas korrigiert, auch, weil am Dienstag gemunkelt wurde, die OPEC plus Russland könnten ihre Fördermenge bei dem heute anstehenden Treffen um 1,5 Millionen Barrel pro Tag ausweiten, nachdem der OPEC-Generalsekretär erklärte, die Perspektiven für den Ölpreis seien positiv und die Nachfrage in Asien wäre ermutigend. Und jetzt dieser Kurssprung, so unmittelbar vor dem Treffen?
Für diesen Anstieg gäbe es zwei mögliche Erklärungen. Auffällig war, dass Brent Crude unmittelbar mit der Veröffentlichung der Lagerbestände um 16:30 Uhr MEZ zunächst zwar wegsackte, dann aber noch in der gleichen Minute wieder anzog und eine Rallye begann. Das wirkte, als wollten große Trader diese initiale, negative Reaktion gezielt „wegkaufen“. Welchen Sinn würde das ergeben?
Es könnte dazu gedacht sein, zum einen gezielt zu provozieren, dass Daytrader auf die Rallye aufspringen, so dass die Nachfrage im Future ausreichen würde, um selbst in die dann selbständig höher laufenden Kurse hinein Long-Positionen abzubauen. Es könnte zugleich dazu dienen, der OPEC ein Bild zu suggerieren, das es der Gruppierung leichter machen würde, die angeblich mögliche Fördermengenausweitung umzusetzen und damit mittelfristig wieder tiefere Ölpreise zu erreichen … worauf sich diejenigen, die den Kursimpuls angeschoben haben, dann durch die vorgenannte, gezielte Distribution einstellen würden. Das ist zwar eine etwas gewagte Erklärung, weil man so etwas nie sicher belegen kann, aber derartige taktische Operationen sind am Ölmarkt alles, nur nicht selten.
Die zweite Erklärung läge in der Motivation dieses Lagerbestands-Aufbaus durch die US-Unternehmen. Denn es ist bei einer derartigen Größenordnung nicht zu unterstellen, dass die Nachfrage derart weggebrochen wäre, dass die Unternehmen zwar wie üblich eingekauft, aber wider Erwarten auf einmal extrem wenig verbraucht hätten. Der Anstieg der Bestände muss also auf starken Käufen basieren. Und da nicht zahllose US-Unternehmen zugleich auf einmal merken, dass ihre Tanks leer sind, dürfte die Basis darin liegen, dass viele fürchten, dass der Preis in den kommenden Wochen weiter ansteigt, so dass man sich schnell noch zu einigermaßen akzeptablen Preisen eindeckt. Diese Erwartung steigender Preise könnte man durch diese Rallye des Mittwochs nachvollzogen haben. Aber läge man damit richtig?
Das wird sich frühestens heute im Zuge der OPEC-Gespräche herausstellen. Erst einmal muss klar werden, ob, wann und wie viel die Förderung ausgeweitet würde. Erst danach wird die Tendenz beim Brent Crude Oil-Kurs „belastbar“.
Dass dieser Kurssprung auch charttechnisch bedingt ist, sehen Sie im Chart: Brent hatte das gewaltige Gap vom März 2020 geschlossen, absolvierte dann aber auch noch seine „Bonus-Runde“ nach oben und touchierte die obere Begrenzung des mittelfristigen Aufwärtstrendkanals. Dort aber stoppte die Hausse durch einen „Evening Star“ (grüne Kerze, Doji, rote Kerze), ein bärisches Signal, das durch zwei schwächere Folgetage bestätigt wurde und an die nächstgelegene Unterstützung in Form der 20-Tage-Linei führte. Genau dort sahen wir diese Rallye trotz dieses gewaltigen Lagerbestands-Aufbaus.
Am letzten Hoch bei 66,82 US-Dollar vorbei zu kommen, dürfte nur gelingen, wenn die OPEC sich entscheidet, die bisherige, künstliche Verknappung des Angebots beizubehalten. Sollte Brent Crude in diesem Kurs des Mai-Futures aber unter 60 US-Dollar schließen und damit wieder in die Zone der März 2020-Kurslücke zurückfallen, dürfte es vorerst vorbei sein mit diesem gewaltigen Aufwärtsdrang der vergangenen Wochen und Monate.

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