Die aktuelle Börse steht im Zeichen des Regierungswechsels in den USA. Es ist eine Atmosphäre des Aufbruchs. Nach dem lähmenden Stillstand zwischen der Wahl und der Amtseinführung werden jetzt die Ärmel hochgekrempelt. Das klingt nach goldenen Zeiten für den Aktienmarkt. Aber kommt es wirklich so? Wie groß ist der Einfluss der US-Politik auf die Wall Street wirklich? Und wie groß ist die Strahlkraft der US-Politik auf unsere Märkte in Europa? Schauen wir uns das mal an und werfen dabei auch einen Blick zurück auf die Amtszeiten früherer Präsidenten.
Die Pandemie fordert stetig mehr Todesopfer in den USA. Die Erholung der Wirtschaft ist seit November vorbei, immer mehr Konjunkturdaten zeigen, dass die Konjunktur bereits wieder auf dem Rückzug ist. Doch seit Monaten passierte auf politischer Ebene an beiden Fronten nichts mehr.
Das wird jetzt umgehend anders. Jetzt werden die Dinge angegangen, die Probleme gelöst, der Motor wieder angeworfen und der tiefe Graben, der sich durchs Land zieht, zugeschüttet. Wie sagte der neue Präsident: „Es gibt nichts, was wir nicht tun könnten, solange wir es zusammen tun“. So wird es kommen … oder?
Kein neuer Präsident kann Wunder wirken
Es mag sein, dass ein Ruck durchs Land gehen wird. Aber vorerst würde der sich in den Köpfen abspielen, nicht auf der Straße, am Arbeitsmarkt oder in den Konjunkturdaten. Nicht, weil der Wille nicht da wäre oder wieder einmal große Worte sehr schnell durch Halbherzigkeit ersetzt werden. Aber um umfassend etwas zu bewegen, braucht es Zeit und einen Brückenschlag zwischen den Republikanern und Demokraten im Kongress. Ob der gelingt, ob man imstande und willens sein wird, wieder nach Notwendigkeiten und dem eigenen Empfinden statt wie zuletzt streng entlang parteipolitischer Grenzlinien zu agieren, ist völlig offen.
Aber nur, wenn die Politik den Willen zum Zusammenhalt vorlebt, wird die Zuversicht nachhaltig genug sein, um Jobs zu schaffen, den Konsum anzukurbeln, d.h. mehr sein als ein kurzes Aufbäumen. Joe Biden hat umgehend einige Dekrete unterschrieben, in denen einige erste Schritte unternommen werden, um seinen Weg aufzuzeigen. Aber um ihn wirklich nachhaltig zu gehen, braucht er die Politik. Ein Präsident alleine kann, so groß die Macht eines Präsidenten in den USA auch ist, nichts nachhaltig verändern. Das kann er nur, wenn die Abgeordneten in Repräsentantenhaus und Senat mitziehen. Dass die Demokraten in beiden Kammern eine knappe Mehrheit haben, ist da zwar von Vorteil. Aber dass all seine Parteifreunde allem, was Biden anschieben will, zustimmen, ist illusorisch. Nur mit der Hilfe der Republikaner kann Biden wirklich etwas bewegen.
Das ist ein Aspekt, dem sich jeder neue Präsident gegenübersah, ob er nun Trump, Obama, Bush oder Clinton hieß. Trotzdem wirkt es, als würde der US-Aktienmarkt an der Börse aktuell genau das erwarten: Eine Wende auf dem Absatz, hin zu einem idealen Umfeld für Wachstum. Kann das gutgehen?
Aufbruchsstimmung an der Wall Street: Da spielen neue Präsidenten nicht die erste Geige
Das kann es, zumindest eine Zeit lang. Aber es kann jederzeit zu Rückschlägen kommen, eben weil kein neuer Präsident hexen kann, er alleine nicht den Konsum ankurbeln, Jobs schaffen, Geld drucken, Optimismus und Zusammenhalt generieren kann. Und so wünschenswert ein „wir alle zusammen“, das Joe Biden bei seiner Vereidigung eingefordert hat, auch wäre: Das wünschten und forderten alle neuen Präsidenten. Mal gelang es besser, mal schlechter, aber nie von eben auf sofort. Aber wenn man sich fragt, welcher Perspektive sich die US-Börsen aktuell und in deren Kielwasser die Euro-Börsen gegenübersehen, muss man eines festhalten:
Wall Street ist nicht Main Street! Die Börse ist zum einen kein Spiegel der Realität und zum anderen kein Spiel des politischen Klimas. Das war sie, von kurzen Phasen abgesehen, nie, ist sie heute nicht und wird es auch nie sein. An der Wall Street handelt man zwei Dinge:
Zum einen sind das Hoffnungen. Die können wachsen, wenn eine scheidende Regierung zwar in Lethargie versinkt, die kommende Regierung aber in dieser Zeit große Pläne schmiedet … und das umso mehr, wenn das Land in einer Krise feststeckt. Aber das muss nicht immer so laufen. Sehen wir uns das mal im Vergleich zu früheren Amtswechseln an:

Die vorstehende Grafik zeigt die letzten vier Präsidenten-Wechsel, wobei die Charts jeweils von Ende September bis zur Amtseinführung des neuen Präsidenten am 20. Januar reichen. Bemerkenswert dabei:
Alle vier Amtswechsel fielen mit kritischen Phasen zusammen. 2000 war die Dot.Com-Blase geplatzt. 2008 tobte die Subprime-Krise. 2016 war für die Weltwirtschaft ein Flaute-Jahr. Und 2020 war es die Pandemie. Trotzdem sehen wir hier keine einheitliche Struktur. 2000 und 2008 war man zwischen Wahl und Vereidigung eher skeptisch, 2016 und 2020 optimistisch. Die Existenz einer Krise an sich bestimmt offenbar nicht, wohin es in dieser Phase geht, die Parteizugehörigkeit des neuen Präsidenten auch nicht. Und das gilt auch für die Entwicklung des Aktienmarkts bezogen auf die gesamte Amtszeit eines Präsidenten. Das sehen wir im folgenden Chart:

Allgemein wird gerne behauptet, Republikaner seien für die Wirtschaft weit besser als demokratische Präsidenten, ebenso, wie man hierzulande gerne der CDU die höhere wirtschaftliche Kompetenz im Vergleich zur SPD zubilligt. Aber der Chart zeigt es: Ob der Präsident Republikaner oder Demokrat ist, scheint dem Aktienmarkt herzlich egal zu sein. Wie das? Das lässt sich durchaus begründen:
Die Wirtschaft macht „ihr eigenes Ding“
Denn da ist noch der andere Aspekt, der die Börse neben Hoffnungen und Erwartungen leitet: Fakten. Aber weniger die Fakten der „Main Street“. Denn wie es der Gesamtwirtschaft geht, ist zwar grundsätzlich ein Leitstrahl des übergeordneten Trends. Aber primär interessieren sich die Investoren für die Unternehmen, die an der Börse notiert sind. Und da vor allem für die Blue Chips, die größten der großen Unternehmen, die mit ihrem hohen Gewicht in den Aktienindizes den Trend dominieren.
Wenn die gut durch eine Krise kommen, und sei es, weil sie auf dem Rücken der mittleren und kleinen Unternehmen von einer schwierigen Situation profitieren, werden diese Aktien stur weiter gekauft und der Aktienmarkt legt zu. Und über die Jahrzehnte hat sich da ein Leitsatz etabliert, der für die USA ebenso wie für den Rest der Welt gültig ist:
Solange die Politik die Wirtschaft in Ruhe lässt, läuft es an der Börse rund.
Die großen Unternehmen sind besser imstande, auf wirtschaftliche Herausforderungen zu reagieren als die Politik. Was umgekehrt bedeutet, dass die Börse gerne dann ins Wanken gerät, wenn sich die Regierungen zu sehr in das Wirtschaftsgeschehen einmischen. Das kann durch eine Veränderung der Arbeitsmarktgesetze, durch eine zu rigide Fiskalpolitik oder andere Einflüsse passieren. Oder, wie im Fall der letzten US-Regierung, durch das Stören des Handels im Zuge des Handelskriegs USA/China, was weltweit negative Auswirkungen hatte.
Daher sind es eher die Reaktionen der großen Unternehmen auf die Politik, auf welche die Investoren reagieren. Wenn es zum Beispiel zu einer Veränderung der Fiskalpolitik kommt, die vom Großteil der großen Unternehmen positiv gewertet wird (und das müssen dann nicht zwingend Steuersenkungen sein), verlassen sich die Anleger meist darauf, eben weil sie die wahre Expertise in Sachen Börse und Wachstum bei den Unternehmenslenkern und weniger bei der Regierung sehen.
Hinzu kommt der Aspekt der Berechenbarkeit. Um ein positives Marktumfeld sicherzustellen, dürfen die politischen Einflüsse nicht wie ein Blitz vom Himmel kommen, wie dies in der Trump-Ära zu oft der Fall war. Kurz:
Die Politik muss für ein grundsätzlich günstiges Umfeld für Wachstum sorgen und sich ansonsten heraushalten, dann passt es. Welches Parteibuch der Präsident hat, spielt dann nicht die geringste Rolle.
Und sie sehen im folgenden Chart: Dann läuft es auch beim DAX, denn die Vorlagen für die Weltwirtschaft kamen immer aus Übersee. Das ist nur dann anders, wenn die heimische Politik ein komplett anderen Kurs fahren würde, was aber, da Deutschland im Konsens der EU agiert und diese wiederum nicht ohne die USA auskommt, eher selten der Fall sein wird.

Aber zurück zur neuen US-Regierung. Was wird sich an der Börse aktuell für den Aktienmarkt ändern? Und hat man das am Markt bereits wahrgenommen?
Warum Joe Biden für den Aktienmarkt positiv wirken könnte
Ich meine, das, was sich jetzt ändern wird, ist genau das, was man am US-Aktienmarkt ebenso wie bei uns in Europa seit Anfang November bereits einpreist: Biden hat jahrzehntelange politische Erfahrung, einen relativ guten Draht zu den Entscheidern der republikanischen Partei und ist berechenbarer. Er hat genug Erfahrung um zu wissen, dass er die Wirtschaft mit Samthandschuhen anfassen muss. Dass er Janet Yellen als Finanzministerin eingesetzt hat und dass er die Steuern nicht umgehend wieder anheben will, belegt das … man hat es mit Freude zur Kenntnis genommen.
Ebenso wissen Unternehmen wie Investoren gleichermaßen, dass es mittel- und langfristig zwar knifflig wird, die explodierte Neuverschuldung wieder einzudämmen, jetzt aber viel Geld in die Hand genommen werden muss, um den Bann der aktuell wieder beginnenden Abwärtsspirale der Wirtschaft zu brechen. Und genau das soll zeitnah mit einem weiteren Konjunkturpaket sichergestellt werden.
So lange die Regierung Biden tut, was die US-Wirtschaft braucht und zugleich deutlich macht, dass man die Krise zusammen mit den anderen großen Wirtschaftsräumen bewältigen will statt auf deren Kosten, kann die derzeitige Aufbruchsstimmung vorhalten. Die Rückkehr zur klassischen US-Politik bedeutet indes nicht, dass der Gedanke von „America First“ verschwinden würde. Denn auch, wenn das ein Trump-Slogan war, die USA waren schon immer sehr entschieden auf ihren Vorteil bedacht, nur passierte das früher – und ab jetzt wieder – mit einem freundlicheren Umgangston. Dass auch die neue US-Regierung darangehen wird, mit China, der EU und dem Rest der Welt hart zu verhandeln, dessen darf man gewiss sein. Aber wie gesagt: Solange man dabei die Unternehmen weitestgehend in Ruhe lässt, wird das den Aktienmarkt nicht weiter stören.
Der Risikofaktor: Zu große Erwartungen
Auch, wenn die Investoren aus meiner Sicht damit richtig liegen dürften, dass die neue US-Regierung die Probleme mit Bedacht, aber zugleich entschlossen angehen wird, wie eingangs betont kann auch Joe Biden nicht übers Wasser gehen und die Krise umgehend beenden, dazu ist die Problematik viel zu komplex. Auch wenn man in Washington alles richtig machen würde und der Widerstand der Opposition begrenzt wäre, wird es mindestens ein halbes Jahr dauern, bis man über den Berg wäre. Ist das denen, die den marktbreiten S&P 500 seit dem Wahltag um sagenhafte 15 Prozent nach oben getrieben haben, bewusst?

Wenn man an der Börse aktuell zu viel zu schnell erwartet … und das ist zu befürchten … wird es in den kommenden Wochen und Monaten immer mal wieder zu „Eisduschen“ für die Bullen kommen. Ob dies dann indes den übergeordneten Aufwärtstrend brechen wird, ist jedoch fraglich, denn solange Bidens Regierung nicht massiv negativ überrascht, kann sich die derzeitige Aufbruchsstimmung lange halten.
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
* Charts vom 21.12.2020, Chartquelle marketmarker pp4
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