Je drastischer ein von Analysten neu vergebenes Kursziel ausfällt, desto heftiger ist meist die Reaktion der entsprechenden Aktie. Das scheint mittlerweile normal zu sein. Aber das sollte es, eigentlich, nicht. Wie bedeutsam sollten Analysten-Kursziele für die Kurse sein?
Man hat mittlerweile den Eindruck, ein neues, deutlich über oder unter dem aktuellen Kurs einer Aktie liegendes Kursziel sei eine Art Wegweiser, dem man folgen sollte. Wenn wir uns im Folgenden Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit ansehen, bei denen drastisch veränderte Ziele den Kurs erheblich bewegt haben, könnte man denken, immer mehr Anleger hätten an der Börse aktuell außer solchen „Hausnummern“, die da plötzlich im Raum stehen, keine anderen Orientierungen, an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Und ich fürchte, das ist tatsächlich so.
„Kursziel-Hörigkeit“ ist nicht die Ursache des Problems, sondern nur ein Symptom
Die Zahl noch relativ neuer und damit unerfahrener Anleger am Aktienmarkt, die auch keinerlei Grund sehen, sich das eigentlich nötige Basiswissen eines Investors anzueignen, steigt. Ich merke das in Gesprächen mit „Neuanlegern“ sehr deutlich, man sieht es aber auch am Verhalten der Märkte, die immer mehr „ereignisgetrieben“ wirken. Alle reagieren scheinbar unlimitiert gleichzeitig, dann passiert erst einmal kaum noch was, weil man auf den nächsten „Newsflash“ wartet, der die Masse in Marsch setzt. Ist das ein ernstes Problem?
Nur für diejenigen, die das nicht realisieren. Das Verhalten der Märkte ändert sich nun einmal. Zwar bleibt die Konstante in Form der ewigen Emotionalität und damit Unberechenbarkeit der die Kurse „machenden“ Marktteilnehmer immer gleich (sonst wär‘s ja auch keine Konstante, gell). Aber mal wirkt sie mehr auf die Kurse, mal weniger. Aktuell ist „mehr“ angesagt.
Wenn Sie vor einer komplexen Maschine stehen, die sie unbedingt benutzen wollen, aber eigentlich keinen blassen Schimmer haben, wozu all die Knöpfe da dran eigentlich gut sind, dann neigen Sie eben dazu, dem zu glauben, der glaubwürdig daherkommt und Ihnen sagt: Drück da mal drauf, das passt. Das ist nicht immer schlau. Mittelfristig sogar eher nie. Aber extreme Reaktionen auf extreme Kursziele sind das Symptom, nicht die Ursache. Und um es gleich vorwegzunehmen: Die Analysten selbst sind (fast immer) auch nicht die Ursache.
Drei Dinge, die man in Bezug auf Kursziele beachten sollte
Denn was diese Leute, die bestimmte Aktien seitens ihrer Arbeitgeber zu überwachen und einzuordnen haben, tun, ist mehr, als einfach ein Kursziel herauszugeben. Das wird auch begründet. Und wer sich anschaut, was einen Analysten dazu bewegt, ein neues Kursziel abzugeben, würde auch sehen, welche Annahmen dem zugrunde liegen und um welchen Zeithorizont es da geht. Wer das bleiben lässt und einfach nur die medial herausposaunte, extreme Zahl handelt, stellt sich selbst aufs Glatteis, nicht derjenige, der sie auf Basis einer Analyse ermittelt hat. Drei Aspekte muss man einfach immer im Hinterkopf haben:

Erstens: Zu einem Kursziel gehört eine Argumentation. Bemüht man sich, an diese heranzukommen, kann man die Sache einordnen und selbst beurteilen, ob man da etwas liest, das die eigene Meinung zur betreffenden Aktie verändert.
Zweitens: Kursziele sind ein Blick nach vorne. Da die Zukunft die Eigenschaft hat, nicht sicher bestimmbar zu sein, müssen die Analysten mit Annahmen arbeiten, z.B. mit einem auf Basis dessen, was man heute an Fakten hat, prognostizierten Umsatz-, Marge- und Gewinnwachstum. Genauso, wie Wirtschaftsweise andauernd ihre Wachstumsprognosen ändern, weil sich die Lage nicht so entwickelt wie in den Modellrechnungen vermutet, müssten auch die Analysten ihre Ziele andauernd anpassen. Das passiert aber nicht, neue Bewertungen einer Aktie kommen zwar manchmal bei einigen Analysten alle paar Wochen, es können aber auch Monate zwischen dem vorherigen und dem neuen Ziel liegen. Und dann kann eine Kursziel-Anpassung eben auch dramatisch ausfallen, wenn sich seither viel getan hat. Hinzu kommt: Analysten mögen zwar eine Menge Fachwissen haben, aber Hellsehen gehört eben auch bei ihnen nicht zur Stellenbeschreibung. Was zum dritten Punkt überleitet:

Drittens: Alter und Frequenz der Kursziel-Anpassungen sind entscheidende Hinweise darauf, wie man selbst ein massiv angehobenes oder gesenktes Kursziel einordnen sollte. Wenn man nachforscht und z.B. im Fall des immensen Kursziel-Sprungs von Jefferies für die Siemens Energy-Aktie sieht (vorstehender Chart), dass das alte Kursziel vom 26. März stammt, wird klar, dass es nicht eine unglaublich positive Wandlung im Unternehmen war, die den Analysten dazu brachte, das Kursziel um flotte 143 Prozent von 55 auf 143 Euro anzuheben, sondern der Umstand, dass die letzte Einstufung eben über sieben Monate zurücklag!
Das mit der Unfähigkeit, heute zu wissen, was übermorgen sein wird, erleben wir ja auch immer dann, wenn ein Unternehmen mit einer herben Gewinnwarnung um die Ecke kommt, die man so nicht hatte vorhersehen können. Beispiel hierfür im dritten Chart: die Gerresheimer-Aktie. Auch die Analysten schleichen nicht nachts durch die Verwaltungsbüros der Unternehmen und hacken sich in deren Geschäftszahlen. In solchen Momenten (auch im Fall weit überbotener Erwartungen) stehen die Experten genauso überrascht da wie wir alle. Man hatte Annahmen, man machte Prognosen, aber wenn etwas völlig Unerwartetes auftaucht, sind all diese Rechenmodelle, die am Ende ein Kursziel ausspucken, eben Makulatur. Dann müssen die Analysten mit ihren Kurszielen den Ereignissen genauso hinterherlaufen wie die Anleger. Fazit:

Wer das Ziel kennt, den Weg dorthin aber nicht, hat ein Problem
Kursziele sind keine Aufforderung, eine Aktie umgehend an dieses Ziel zu kaufen oder zu verkaufen. Kursziele sind die Quintessenz einer Analyse von Fachleuten, die auf oft ganz unterschiedlichen Annahmen und Sichtweisen der kommenden Entwicklung fußen (was auch erklärt, warum z.B. die Kursziel-Spanne für Aktien wie Tesla extrem breit ist, derzeit liegt das niedrigste Ziel bei 120, das höchste bei 600 US-Dollar, die Aktie notierte am Freitagabend bei 404 US-Dollar). Wer sich rein auf eine Kursziel-Hausnummer stützt und handelt, ohne zu wissen (bzw. wissen zu wollen), wie diese zustande kam, lebt als Anleger gefährlich. Vor allem, wenn man sich bei den Kurszielen einfach die Rosinen herauspickt, indem man mit einer bullischen Positionierung einfach die höchsten zwei, drei Ziele als Richtschnur sieht und negative Einstufungen und Kursziele ignoriert.
Der Weg zum Ziel, den der Analyst ging, ist von entscheidender Bedeutung. Ohne ihn ist ein Kursziel nur eine leere Zahl, da möge man sich an den Mathe-Unterricht erinnern, wenn man bei einer Lösung einfach geraten hat und der Lehrer das nicht anerkannte, weil der Lösungsweg fehlte und so klar wurde: Der hatte keine Ahnung, worum es eigentlich ging.
Und abschließend sollte man auch noch einmal hervorheben, dass ein Ziel eben ein Ziel ist und keine Garantie dafür, dass ein Kurs dieses auch wirklich erreicht, schon gar nicht „stante pede“!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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