Die Börse ist bisweilen kompliziert. Daher stehen Faustregeln seit jeher hoch im Kurs, so lebt es sich als Anleger einfacher … aber auch gefährlicher. Denn dass aus X immer Y folgt, ist eben ein Irrtum. Genauso verhält es sich mit der beliebten und dieser Tage wieder hoch im Kurs stehenden Faustregel, dass Leitzinssenkungen für Konjunktur und Aktienkurse immer bullisch seien. Das sind sie in der Tat bisweilen. Aber keineswegs immer.
In der vergangenen Woche starteten die US-Aktienindizes nach einer Konsolidierungsphase auf einmal so richtig durch. Zwei Argumente wurden dafür herumgereicht. Zum einen die Statistik, nach der die Indizes in der Thanksgiving-Woche in über zwei Drittel der Jahre Kursgewinne erzielen. Was man auf „patriotische Gedanken“ und „gute Feiertagslaune“ zurückführt, letzten Endes aber, nachdem man das Jahr für Jahr in die Ohren geblasen bekommt, mehr eine „self fullfilling prophecy“ ist. Und eine, die flüchtig ist, denn was ist jetzt, nach der Kaufwelle und eben nach Thanksgiving?
Da springt dann hilfreich die Nummer zwei der Argumente ein: Die Chance, dass die US-Notenbank doch schon in ihrer kommenden Sitzung am 10. Dezember erneut und dann in der dritten Sitzung in Folge den Leitzins senkt, sei gestiegen. Primär verbindet man das mit Aussagen einiger Mitglieder des Entscheidungsgremiums der „Fed“, des FOMC (Federal Open Market Committee). Aber dass diese Notenbanker „weich“ werden, obgleich es wegen des Shutdowns massiv an aktuellen Daten mangelt, ist der zweite, der dahinterstehende Grund:
Es scheint, der Arbeitsmarkt wackelt erheblich. Und es scheint zudem, als würden die US-Verbraucher langsam nervös und würden, wo noch vorhanden, ihr Geld zusammenhalten. Schlecht für das Wachstum. Gefährlich sogar. Und da sind Leitzinssenkungen eben das Allheilmittel, so die Mär.
Sinkende Leitzinsen sind immer gut für Aktien? Stimmt nicht.
Denn niedrigere Leitzinsen bedeuten niedrigere Kreditzinsen. Und zu billigeren Zinsen werden Unternehmen mehr investieren, Verbraucher mehr Kredite für Anschaffungen aufnehmen und ruckzuck läuft wieder alles rund. Folgerichtig kauft man da am Aktienmarkt schon mal vor, das Wachstum kommt dann schon in Kürze von alleine und rechtfertigt die höheren Kurse nachträglich. So einfach ist das also?

Nein, so einfach ist das eben nicht. Weder springt das Wirtschaftswachstum automatisch an, wenn die Leitzinsen sinken, wie die vorstehende Grafik zeigt. Noch muss der Aktienmarkt im Zuge einer Zinssenkungsphase steigen, wie Sie im unten folgenden Chart sehen können. Denn es kommt ganz entscheidend darauf an, warum die Leitzinsen gesenkt werden und in welchem Gesamtumfeld sich Konjunktur und Aktienmarkt bewegen. Und wenn man das erst einmal weiß, versteht man umgehend: Mit einer simplen Faustregel kommt man da nicht weit, sondern geht im Zweifelsfall vor die Hunde.
Die zwei gegensätzlichen Basis-Szenarien bei sinkenden Leitzinsen
Im Idealfall, das ist Szenario 1, senkt die Notenbank die Leitzinsen, weil sie es kann. Das Wachstum ist solide, aber nicht überschäumend. Die Inflation bewegt sich im Bereich der Zielzone oder leicht darunter. Zuvor höhere Zinsen sind daher nicht mehr nötig, weil der Preisauftrieb, den man damit bremsen oder ihm zuvorkommen wollte, nicht da ist. Das ist ein Umfeld, das man gerne als Goldilocks-Szenario bezeichnet: Ein perfekter Rahmen für steigende Aktienkurse.
Szenario 2 ist das aber ganz und gar nicht. Hier senkt die Notenbank den Leitzins, weil sie es muss. Sie muss es tun, weil sie ein wegbrechendes Wachstum bzw. einen schwachen Arbeitsmarkt stützen will. Im Gegensatz zur EZB hat die US-Notenbank ja unter anderem auch die Schaffung eines günstigen Umfelds für Vollbeschäftigung (und damit im Prinzip für Wachstum) im Pflichtenheft stehen. Und wenn man mit Leitzinssenkungen versuchen muss, ein abschmierendes Wachstum aufzufangen, stellt sich die Bedeutung für den Aktienmarkt komplett anders dar als bei Szenario 1.

Denn dann sind sinkende Leitzinsen kein „Bonbon“, das ein intaktes Wachstum stabilisieren und/oder intensivieren kann, sondern der Versuch, ein negatives Umfeld entweder zu verhindern oder, wenn das Kind schon im Brunnen liegt, umzukehren. Wobei dann auch immer die Frage im Raum steht: Was ist da möglich? Denn nur, wenn ein nachlassendes Wachstum nicht dummerweise zugleich Inflation mit sich bringt, sprich keine Stagflation eingetreten ist, kann die Notenbank überhaupt große Zinssenkungen vornehmen. Ansonsten würde man das Wachstum auf Kosten schneller steigender Preise stützen und damit gleich vor dem nächsten Problem stehen, das dann wiederum, so wie 2022, schnell steigende Zinsen erfordern würde.
Bullisch wären Zinssenkungen der „Fed“ für den US-Aktienmarkt daher nur, wenn a) die Lage dergestalt ist, dass man sich Zinssenkungen leisten kann, aber nicht wegen „Not am Mann“ vornehmen muss und b) der Aktienmarkt nicht in einer Situation wäre, in der auch niedrigere Zinsen die Abwärtsrisiken nicht mindern würden. Wo stehen wir da gerade?
Wo stehen wir aktuell, welches Szenario gilt gerade?
Ja, wo stehen wir? Genau das ist der Punkt, der eine Einordnung sinkender Zinsen zumindest im Moment fast unmöglich macht. Denn bedingt durch den Shutdown fehlen entscheidende Daten, zur Inflation ebenso wie zum Arbeitsmarkt. Was wir haben, sind private Datenerhebungen und Stimmungsbilder. Aber die sehen eher so aus, als sei Szenario 2 eher zutreffend, also das, in dem die US-Notenbank stützen muss, damit die US-Konjunktur nicht wegrutscht.
Denn die jüngsten Daten zum US-Verbrauchervertrauen zeigen zum einen, dass die gefühlte Inflation mit 4,5 bis 4,8 Prozent, je nach Datenquelle, sehr hoch ist und die Konsumenten ihr Geld zusammenhalten, weil eine steigende Zahl an US-Haushalten ihre finanzielle Situation und deren Perspektive als schlecht ansehen. Und privat ermittelte Daten bzw. Schätzungen zum US-Arbeitsmarkt zeigen zugleich, dass der Oktober womöglich sogar einen Stellenabbau mit sich brachte, über den November weiß man ja noch überhaupt nichts. Auch die Zahl der angekündigten Entlassungen ist gestiegen, auch das ist ein Warnsignal.
Zum einen hieße das: Wer sich jetzt darüber freut, dass die „Fed“ am 10. Dezember womöglich erneut den Leitzins senkt, freut sich darüber, dass die Feuerwehr kommt und hat kein Problem damit, dass die anrücken muss, weil das eigene Haus in Flammen steht. Zum anderen hieße diese vorgenannte Gemengelage, dass ein Inflationsrisiko herrscht, das die US-Notenbank beim Löschen des konjunkturellen Feuers bremst. Und das ist, alles in allem, eben eher nicht bullisch, zumal:
Es ist ja nicht so, dass der US-Aktienmarkt gerade, so wie Ende 2023, als nach der kräftigen Anhebung wegen der Inflationsphase die ersten Zinssenkungen kamen, einen längeren Abstieg hinter sich hat. Es ist auch nicht so, dass die US-Aktienmärkte niedrig bewertet oder gar unterbewertet wären. Das Gegenteil ist der Fall. Und noch ein Aspekt wird, wenn man mit dieser Zinssenkungs-Faustregel hantiert, immer ignoriert:
Wenn Unternehmen und Verbraucher wissen, dass die Leitzinsen und in deren Schlepptau die Kreditzinsen sinken, werden sie, wo irgend möglich, abwarten, bis der Boden erreicht ist. Warum einen Zins von z.B. fünf Prozent für einen Ratenkredit bezahlen, wenn man darauf hoffen darf, dass der in einem halben oder ganzen Jahr nur noch bei vier Prozent liegt? Was bedeutet: Ein die Konjunktur wirklich stützender bzw. belebender Effekt kommt nicht nach den ersten kleinen Zinssenkungen, sondern am Ende des Senkungszyklus. Und der würde, sofern die „Fed“ nicht durch zu stark steigende Preise gebremst werden sollte, noch ein gutes Stück in der Zukunft liegen. Fazit:
Zinssenkungs-Rallyes sind oft auf Sand gebaut, aber …
Es ist gut möglich, dass die Käufer in Bezug auf die bullische Wirkung sinkender Leitzinsen in diesem derzeitigen Umfeld auf Sand bauen. Aber daraus zu folgern, dass man da wegbleiben muss oder gar sorglos auf die Short-Seite setzen kann, weil das Kartenhaus über kurz oder lang zusammenbricht, wäre ein Fehler, denn:
Ja, in einem Umfeld eines KI-Hypes, einer fehlenden Marktbreite der Hausse, problematischer Zölle und einer unberechenbaren politischen Landschaft wird das Kartenhaus wohl zusammenbrechen. Aber bei „über kurz oder lang“ kann trotzdem „lang“ richtig sein. Denn die Kurse steigen ja nicht entlang der Fakten, sondern sie werden davon getrieben, was die Käufer als real und richtig ansehen wollen. Wichtig ist nur, zu erkennen, dass Zinssenkungen nicht automatisch bullisch sind, um gewappnet zu sein. Denn wer das weiß, folgt zwar dem Trend und verdient an ihm, solange er hält, verliert dabei aber nie den Notausgang aus den Augen, über dessen Lage vermutliche viele bislang nicht einmal nachdenken!
Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Börsenwoche!
Ihr
Ronald Gehrt
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